Der bessere Mensch – Kurzgeschichte von Wolfgang A. Gogolin


Geschichtstitelbild

Der bessere Mensch – Kurzgeschichte von Buchautor Wolfgang Gogolin

Ich setze mich, die Holzbank knarrt unter meinem Gewicht. Eine Frau hinter mir schluchzt und ich bekomme das Gefühl, mit ihr weinen zu müssen. Doch Männer tun so etwas nicht, sie befinden sich in einem immerwährenden Käfig der Emotionslosigkeit, eingesperrt von der Gesellschaft, die das von ihnen erwartet; und auch ich verbeuge mich vor dieser Erwartungshaltung.

Der Pfarrer besprenkelt meinen frisch geborenen Enkel mit Weihwasser und Ben schreit. Meine Tochter und ihr Gatte beruhigen ihn, aber ich finde, sie sollten ihn lassen. Recht so, mein Junge! In dieser Welt wartet noch viel auf dich, worüber sich schreien lässt. Es ist besser, du wirst früh darin ein Meister. Bens Gesicht erreicht gerade die Hitzefarbe kreischrot. Lisa streichelt ihm zart übers Köpfchen, auf dem sich dunkler Haarflaum angesiedelt hat – beruhigen lässt Ben sich nicht. Sanft steckt sie ihm den kleinen Finger in den Mund, nur für einen Moment nimmt Ben ihn an, bemerkt die Täuschung, spuckt ihn aus und schreit. Er hat gute Chancen, ein Realist zu werden. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

Die Frau hinter mir heult immer noch Rotz und Wasser. Ich kenne sie nicht, aber sie wirkt sehr überzeugend. Das findet der Mann an ihrer Seite auch, er raunt ihr zu, dass sie nicht weinen soll, es sei doch ein schönes Ereignis, einen neuen Erdenbürger in der Familie zu haben. Vermutlich nickt sie, umklammert ein Spitzentaschentuch in der Hand und schaut ihren Mann beschämt an.
„Es ist so ergreifend“, flüstert sie und nicht nur Frauen wissen, was damit gemeint ist. Ich, und vermutlich auch der Mann hinter mir, wir sitzen mit versteinerter Miene da.

Was aber tatsächlich ergreifend ist, erkennen Frau Rotz und Wasser sowie der Herr aus Stein nicht. Niemand sieht es. Nur ich, ich sehe es. Es ist das weiße Taufkleidchen. Ein Hauch von Nichts, zwei Rüschen am Saum und einen Spitzeneinsatz im Ausschnitt. Lisa trug es vor fünfundzwanzig Jahren, es sieht so neu aus, dass meine Gedanken eine Zeitschleife fliegen und Lisa als Täufling darin sehen. Nur das rosa Band, das sich damals um ihren Brustkorb schlängelte, wurde ausgetauscht. Jungsfarbe – ein hellblaues Seidenband. Mein lieber Ben! Hellblau ist eine gefährliche Farbe, sie kann zu einem Fluch werden, bald, dauerhaft und bis zum Ende deiner Tage. Achte auf dich!

***

„Paps, du musst jetzt endlich nach dem Taufkleid suchen. Wirklich, wir brauchen es bald.“ Mein Schatz streichelte über ihren schönen, runden Bauch und strahlte mit jenem verzauberten Lächeln, das nur schwangere Frauen hervorbringen. Marie, meine verstorbene Frau, hätte sofort gewusst, wo das Taufkleidchen verstaut war, ich hingegen stocherte im Nebel.

„Lisa, wenn ich nur wüsste, wo das Kleidchen ist.“

„Entspann dich, Paps, dann fällt es dir wieder ein. Ein paar Wochen hast du ja noch Zeit“, sagte sie gnädig. Und da war es wieder, das glückliche Lächeln von überirdischer Tiefe, dem man sich kaum entziehen konnte. Ich sah meinen Engel an und es machte mich sprachlos, was Hormone aus einem Menschen machten. Absolute Glückssättigung. Mit diesem Lächeln könnte sie die Welt erobern, einen Menschen glücklich machen oder ihm das Herz brechen, ohne dass er Schmerzen dabei empfindet. Einfach so.

Nachdem Lisa fort war, nahm ich die Herausforderung an und forschte dem Mysterium des verschwundenen Taufkleides nach. Ich suchte lange, aber weder im Kleiderschrank noch in der großen Kommode oder gar in Lisas altem Zimmer, das inzwischen als Gästezimmer fungierte, konnte ich es finden. Vielleicht war es auf dem Dachboden gelandet?

Es gibt Momente im Leben, die ganz unmerklich eine Wendung im Dasein einläuten, ohne dass man den warnenden Glockenton hört. Momente, die Stillstand verursachen und einen Menschen an den Punkt bringen, den man als Rand des Abgrunds bezeichnet. Als ich die Stufen zum Dachboden hinaufstieg, ächzten die Stufen. War das schon die Vorwarnung?

Das Sonnenlicht zog goldene Fäden durch den Raum, in denen Staub tanzte, ich nahm den Reigen des Tageslichtes kaum wahr, sondern sondierte die Möglichkeiten. Eigentlich konnte es nur in der alten Truhe liegen. Staub- und lichtgeschützt – meine verstorbene Frau war ein ordentlicher Mensch gewesen. Ich öffnete das Ungetüm. Die Scharniere müssen geölt werden, dachte ich noch, bevor ich in das Innenleben der Kiste eindrang.

Spielsachen, Bücher, ein Fotoalbum und Dinge, von den ich angenommen hatte, dass wir sie schon längst nicht mehr besäßen, durchliefen meine suchende Hand. Ich wühlte in vergangenen Zeiten, hielt inne bei einigen Stücken und schwelgte in der Vergangenheit. Ganz zum Schluss, auf dem Boden, lag ein Karton. Das war es! Ich fühlte es, ohne ihn geöffnet zu haben und ich bekam recht. Zwischen Seidenpapier ruhte das duftige Kleidchen mit rosa Schleife, ich strich zart darüber, das Kleinod war gefunden.

An welcher Stelle hört das Schicksal auf, ein Verbündeter zu sein? Wann zeigt es, dass es auch eine andere Seite hat, eine Feindliche? Gelegentlich geschieht so etwas an einem ganz normalen Samstagvormittag auf einem Dachboden in einer schmucken, aber unerotischen Reihenhaussiedlung im Speckgürtel einer Großstadt.

Obendrein zumeist ohne Vorwarnung.

Ich legte den Karton beiseite, beförderte die anderen Habseligkeiten der Vergangenheit wieder zurück in die Truhe. Das schwere Fotoalbum entglitt mir, knallte an die Seitenwand der Truhe, um anschließend lautstark auf das restliche Gut zu fallen. Was für ein Getöse! Höhere Gewalt kann also laut sein. Ein Sparren aus der Seitenwand löste sich, aus dem Spalt quoll ein dünnes Bündel Briefe. Stille schloss sich an.

Schau’ niemals durch ein Schlüsselloch, es wird dich nur quälen – hätte ich das vorher gewusst! Wann hätte ich aufgehört? Als ich die Briefe in die Hand nahm? Das Band öffnete, das die Briefe umgab? Als ich feststellte, dass es sich um eine fremde Handschrift handelte? Oder sobald ich erfasste, dass Liebesbriefe vor mir lagen? Wann wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, es sein zu lassen?

Ich kniete neben der Truhe, als ich den ersten Brief las. Als ich den letzten Brief beiseite legte, saß ich auf dem Fußboden im Staub. Niemals hätte ich mich dazu hinreißen lassen dürfen, die Zeilen zu lesen, denn schon nach den ersten Worten wusste ich, dass der Inhalt nicht für mich bestimmt war. Der Boden der Zufriedenheit wird durch Unbekümmertheit genährt und durch Neugier zerstört.

Marie hatte mich betrogen. Meine Marie! Überall in der Welt herrschten Betrug und Ehebruch. Zu jeder Zeit, in jeder Sekunde. Weder Mann noch Frau waren besser oder schlechter in diesem Metier. Es gab immer zwei, die sich meistens in nichts nachstanden. Doch Marie, die Frau, mit der ich über zweiundzwanzig Jahre glücklich verheiratet gewesen war, von der ich glaubte, sie sei ein Teil von mir, hatte etwas getan, etwas Schlimmeres als eine taumelnde Nacht in den Armen eines Anderen.

Die Erschütterung über die Essenz der Briefe war ein Beben, das den Käfig der Emotionslosigkeit sprengte. Marie hatte mir mein Kind genommen. Ich saß da. Und weinte.

Lisa war nicht meine Tochter, sie war das Kind eines anderen Mannes, der sich Tom nannte und der mein Leben zu einer Lüge machte. Tom wollte kein Vater sein, Tom hatte kein Geld, Tom wollte Freiheit. Marie hatte gehandelt. Ganz offensichtlich musste ein Nestbauwilliger mit Aussicht her. Und der war ich.

Krampfhaft kneteten sich meine Hände. Die Knöchel wurden weiß. Mein Schatz war nicht mein Schatz! Eine Feststellung aus Beton. Kein Wenn und Aber, kein Vielleicht. Tom wusste, dass er ein Kind bekam, Marie wusste, dass es von ihm war – nur ich, ich wusste nichts. Es wäre nur fair gewesen, als Dritter Wissender zu diesem Bunde zu gehören.

Es war ein sonniger Tag mitten im September gewesen, als Lisa geboren wurde. Der  Herbst war schon zu spüren, Blätter fielen und die Herzen unserer Familien flirrten vor Aufregung. Wir waren alle zusammengekommen am Wochenbett meiner Frau; Maries Familie, meine Eltern und ich. Stolz durchtränkte den Raum und die Freude darüber, dass bei der Geburt alles gut gegangen war. Der Engel, der nicht mein Engel war, hatte einige Wochen zu früh das Licht der Welt erblickt. Ich sah die Szene deutlich vor mir, alles schien rosarot.

Das verlogene Bild brachte mich in die Wirklichkeit zurück, im Staub des Dachbodens brachte ich ein zynisches Lächeln hervor. Marie war nicht zu früh zur Welt gekommen, sondern zur rechten Zeit, genau wie ich – Marie, um zu leben und ich, um zu zahlen.

Wann hatte meine Frau noch gelogen? Als sie sagte, dass sie mich liebte. Heuchelte sie in unseren Nächten? Was war dran, an der tiefen Verbundenheit, von der sie immer sprach? Aber vor allem: Warum schwieg sie? Selbst in den letzten Wochen, bevor sie ging, hätte sie noch Zeit gehabt, sich von der Lebenslüge zu befreien. Du bist das Beste, was mir jemals passiert ist, flüsterte sie auf dem Sterbebett und schaute mich zärtlich an. Es war ein Quäntchen von der Zärtlichkeit, mit dem sie in früheren Zeiten gesagt hatte, Lisa sähe aus, als wäre sie aus meinem Gesicht geschnitten.

Der Pfarrer spricht das Abschlussgebet und alle Anwesenden sind erleichtert, dass die lange Zeremonie endlich vorbei ist. Jetzt wird gefeiert!

Lieber Ben, pass’ auf dich auf! Ein Anderer, wird dies nicht tun. Einerlei, wie jemand dir verspricht, dich zu lieben oder zu achten, es bleibt Roulette, darauf zu bauen. Geben, ohne zu nehmen, ist selten auf Erden. Für alles gibt es einen Grund, den man gelegentlich niemals erfährt.

Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen – ein ganzes Leben für eine einzige Erkenntnis. Auch die Überlegung, was ich mit den Trümmern meines Lebens anfangen werde, hat mich Zeit gekostet. Wache Nächte, Whisky und Verzweiflung. Ich habe entschieden, zu schweigen. Lisa ist mein Schatz und wird es bleiben. Kein Wort wird über meine Lippen kommen, keine Geste wird einen Hinweis bergen. Eine Veränderung in unserer Beziehung würde ich nicht überleben. Ich liebe dich, mein Kind. Ich bin stolz auf dich und ich werde dich immer beschützen. Auch, wenn ich weiß, dass alles nur Illusion ist. Besser die Geborgenheit der Liebe und des Geliebtwerdens als die Schmerzen der Realität.

Mein Entschluss ist unumstößlich. Alles wird gut, raunen mir meine Gedanken zu. Blende die Wahrheit aus! Was ist denn schon real?, sagt mir mein Verstand und ich stimme ihm zu. Nur eine Frage ragt noch hervor. Marie schwieg. Ich schweige. Wer von uns ist der bessere Mensch?

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Portraitaufnahme

Buchautor Wolfgang Gogolin – Foto: privat

Wolfgang A. Gogolin, Jahrgang 1957 und von Beruf Rechtspfleger, lebt in seiner Heimatstadt Hamburg. Neben einigen Dutzend Veröffentlichungen in Zeitschriften/Anthologien bisher acht Bücher. Zuletzt erschienen im Sommer 2010 Kurzgeschichten unter dem Titel ‚Geist der Venus’, Anfang 2011 der Roman ‚Schlafen bei Licht’ (beide Mohland / Goldebek).
Ende 2013 wurde der Roman ‚Dunkles Licht in heller Nacht’ veröffentlicht (Oldigor), im September 2014 kam es zu einer Neuveröffentlichung von ‚Geist der Venus’ (Oldigor).
Gogolin ist Veranstalter der monatlichen ‚Spät-Lese’ im Hamburger Kulturpunkt, dessen Vorsitzender er auch ist. Für die Seite genussgenie.de schreibt er regelmäßig Restaurantkritiken. www.wolfgang-gogolin.de

Über Max Kuckucksvater

Seit Anfang 2011 weiß ich nun, dass mein Sohn aus erster Ehe nicht mein leiblicher Sohn ist. Da ich weder im Netz, noch irgendwoanders Hilfe fand, gründete ich dieses Blog. Dieses Blog verbindet Kuckuckskinder, Scheinväter, Väter und Kuckucksmütter untereinander, stellt Hilfsthemen bereit. Zusätzlich klärt es die Öffentlichkeit über den stattfindenden Identitätsraub und Betrug auf, damit wir in Zukunft dieses Leid verhindern können. Der obligatorische Vaterschaftstest ab Geburt (OVAG) ist das einzige Mittel, welches das Kind sicher vor der Fälschung seiner Identität bewahren kann. Seither entstanden sehr viele Kontakte und Freundschaften zu Scheinvätern, Kuckuckskindern und anderen Betroffenen sowie Unterstützern. Der Austausch mit ihnen half mir dabei, meine Trauer zu verarbeiten. Und: Ja, ich lebe tatsächlich in Kolumbien. Inzwischen sind meine Frau und ich stolze Eltern einer Tochter. https://www.facebook.com/max.kuckucksvater
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Eine Antwort zu Der bessere Mensch – Kurzgeschichte von Wolfgang A. Gogolin

  1. Norbert Potthoff schreibt:

    Ein beeindruckender Text, eine beeinduckende Geschichte
    Ich fühle mich geradezu emotional hineingesogen in diese Erzählung, in dieses Erlebnis, das uns hier geschildert wird.
    Ich kenne diese Fasunglosigkeit, wenn unerschütterliche Gewissheit plötzlich auf Treibsand gerät, wenn man Jahrzehnte oder Jahre seines Lebens neu bewerten muss.
    Getäuscht, belogen worden zu sein, obwohl man vertraute, gehört zu den bittersten Erfahrungen eines Menschen.
    LG
    Norbert Potthoff
    AuTor

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